01.08. – 07.08. 2022
Wem gehört die Stadt und die Straße? Das Calle Libre Streetart Festival in Wien im Spannungsfeld zwischen Selbstaneignung und Kontrolle.
Jakob Kattner, der Leiter des Streetart Festivals „Calle Libre“ in Wien, kennt das notorische Dilemma der Street-Art: Auf der einen Seite steht das Bedürfnis von Menschen und KünstlerInnen, sich den öffentlichen Raum, der sie umgibt, als eigenen Kultur- und Lebensraum anzueignen und nach ihren Vorstellungen mitzugestalten. Auf der anderen Seite steht die Angst vor Kontrollverlust durch EigentümerInnen und öffentliche Hand.
Stadtverwaltungen, die Transformationsprozesse nur über Masterpläne zentral gesteuert entwickeln wollen, erkennen aber immer öfter, dass das nicht funktioniert, wenn die Menschen, die ein Quartier bewohnen und beleben, nicht auch selbst mitgestalten und Hand anlegen können.
Seit einiger Zeit beginnt man auch in Politik und Stadtplanungsabteilungen zu erkennen, welches Inkubationspotenzial in Street Art-Projekten bei urbanen Transformationsprozessen innewohnt. Insbesondere dort, wo für alte bestehende urbane Strukturen neue Nutzungskonzepte gesucht werden.
„Calle Libre“-Mitbegründer Jakob Kattner, der an der Kunstuni Linz Künstlerische und industrielle Gestaltung studiert hat und auch als Rapper „Big J“ bekannt ist, hat sich in seiner Dissertation zum Thema „Urbane Kunst in Lateinamerika“ intensiv mit den Fragen der Wechselwirkungen von Urban Art und der sozialen Entwicklung von Stadtvierteln und Stadtkultur auseinandergesetzt.
Fragen nach der Transformation von ganzen Stadtvierteln spielen auch in Europa eine immer größere Rolle. Im Zuge der Industrialisierung sind in vielen Städten nahe an den historischen Zentren Industrie- und Gewerbeareale entstanden, deren ursprüngliche Nutzer schrittweise weiter an die Peripherie abgewandert sind, weil sie an den bisherigen Standorten nicht weiterwachsen konnten.
Übrig geblieben sind oft Stadtareale mit verfallender gewerblicher Bausubstanz ohne klar erkennbare Nutzungskonzepte für die Zukunft. Gerade dieser mit einer Patina überzogene Charme verfallender Gewerbezonen übt überall auf der Welt besonderen Reiz auf kreative Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen aus. Denn die „Mobile Creatives“ suchen leistbaren Raum zum Experimentieren, in dem sie ihre Konzepte untersuchen und entwickeln können und sich den Raum, den sie dafür benötigen, auch aneignen können. Selbstentfaltung und Selbstwirksamkeit steht dabei oft über dem Profit. Und die Bereitschaft, mit einer Idee auch einmal zu scheitern, ist Teil dieser dynamischen sozialen und kreativen Prozesse.
In Wien ist das Gelände rund um den Nordwestbahnhof so ein Areal. In Zusammenarbeit mit der Stadt Wien und den ÖBB „kapert“ das Calle Libre Festival im August dieses Gelände und untersucht mit Street Art-KünstlerInnen unter dem Motto „Regeneration“ die Potenziale des Areals.
Das Festival schafft mit Live-Paintings, Workshops, Rundgängen und Konzerten einen Rahmen, der auch die Menschen aus den umliegenden Teilen der Stadt dazu anregen soll, sich mit diesem Areal zu beschäftigen und vielleicht schon bald mit ihren eigenen Ideen einen kleinen Teil dieses Raumes für sich zu erobern.
Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler verweist dabei auf eine zentrale Funktion von Street Art: „Sichtbarkeit schaffen für Anliegen und Botschaften junger Menschen und alternativer Szenen, das ist seit den Anfängen von Urban und Street Art ihre zentrale Aufgabe.“
Bleibt also nur zu hoffen, dass solche Anliegen nicht nur sichtbar gemacht, sondern von der Politik auch gehört werden.
Calle Libre 2022
01.08. – 07.08. 2022
Nordwestbahnhof Wien
www.callelibre.at