Raum ist der neue Luxus: Interview mit Architektin und Stadtplanerin Aglaée Degros

Als Leiterin des Instituts für Städtebau an der TU Graz lehrt Aglaée Degros lehrt Aglaée Degros den Studierenden nachhaltige Stadtentwicklung.

Aglaée Degros ist Architektin, Stadtplanerin und Leiterin des Instituts für Städtebau an der TU Graz. Mit ihrem Architekturbüro Artgineering in Brüssel interpretiert sie die Beziehung zwischen Mobilität, Landschaft und Stadtentwicklung neu. In unserem Interview spricht sie darüber, warum die derzeitige Krise nützlich sein kann, wie Dichte und Raum eine Stadt definieren und warum wir unsere Wohnsituation überdenken sollten.

Sie haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Problemfeld von Zersiedelung, aussterbenden Ortskernen und den daraus resultierenden ökologischen und sozialen Problemen beschäftigt. Können wir aus dem Zusammentreffen von Coronakrise, Klimakrise und Raumplanungsversagen vielleicht neue Lehren ziehen?
Die Krise in der wir uns derzeit befinden hat uns gezeigt, dass unsere Städte zerbrechlicher sind als wir gedacht hätten. Wir haben leere Geschäfte in der Innenstadt, Wohnungen, die etwas zu eng sind und einen öffentlichen Raum, der etwas zu gedrängt ist.

Also sollten wir die Probleme von Platz und Raumdichte adressieren?
In den Sechzigern haben wir herausgefunden, dass die Regulierung von Raumdichte einen starken Effekt auf die Lebensgrundlage, das Verkehrssystem und die Umwelt einer Stadt hat. Wenn wir eine „15 Minuten Stadt“ schaffen wollen, in der unsere Infrastruktur und Grünflächen zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sind, dann brauchen wir eine gewisse Dichte. Die Dichte ermöglicht uns eine gegenseitige Nutzung von Ressourcen.

Einerseits fühlen wir uns im privaten und öffentlichen Raum eingeengt, andererseits brauchen wir eine gewisse Dichte. Wie können Architekt*innen und Stadtplaner*innen eine Balance herstellen? Worauf sollten sie bei der Regulierung der Dichte achten?
Wenn wir uns nicht ein Jahrhundert zurückbewegen wollen und wenn wir den Klimawandel bekämpfen wollen, dann sollten wir nicht die Quantität des Raumes in Frage stellen, sondern die Qualität. Schaut man sich die Grundlagen einer Stadt an, den öffentlichen Raum, die Straßen und die Wohnungen, sieht man, dass die Raumqualität ganz einfach verbessert werden kann. Es ist alles eine Frage der Priorität.

In vielen Städten, so scheint es, sind Autos die Priorität Nummer eins.
Was Stefan Bendiks und ich in unserem Buch „Traffic space is public space“ in Erinnerung rufen, ist, dass wir zwar öffentlichen Raum haben, dieser aber durch Autos, Verkehr und Parken dominiert wird. Vielleicht braucht es einen gerechteren Raumanteil für passive Mobilität, die nach wie vor benötigt wird, und für die Umwelt. Eine beliebige Straße in Graz oder Brüssel ist 8 bis 10 Meter breit und dennoch bewegen wir uns als Fußgänger auf einem 80 Zentimeter breiten Gehsteig.

„Vor kurzem habe ich einen Artikel mit der Überschrift „Raum ist der neue Luxus“ gelesen. Das ist keine neue Diskussion. Ich denke, um das neu zu formulieren, der neue Luxus ist der gute Raum.“

Wie Sie bereits erwähnt haben gibt es Platzprobleme nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Raum. Was ist das Hauptproblem hier?
Genau. Wir führen dieselbe Diskussion wenn es um Wohnen geht. Es gibt nicht viele Städte, die einen guten Überblick darüber haben, was leer steht und was bewohnt ist. Und das ist wirklich wichtig, wenn wir nicht weiterhin immer mehr Wohnungen bauen wollen. Wir sollten zumindest wissen, was wir nutzen.

Während wir unsere Städte immer weiter zubauen, werden die Wohnungen immer kleiner. Woran liegt das?
Wir folgen oft dem Markt. Im Moment sagt der Markt, dass wir kleine Wohnungen brauchen. Und ich frage mich, ob das wirklich der Fall ist oder ob wir ein kleines Kapital in das investieren sollten, was wir tatsächlich brauchen. Denn wir wissen, dass wir in unseren Wohnungen eingeengt sind, aber der Markt sagt, dass wir produzieren sollen.

Wie kann man diesem Problem begegnen?
Ich denke, wir sollten das in Frage stellen. Es gibt neue Formen des Wohnens, die wirklich interessant sind. Co-Housing zum Beispiel – eine Zusammenlegung von Ressourcen und Raum mit mehr qualitativem Gemeinschaftsraum. Ich hatte eine Diskussion mit einem Architekten aus der Schweiz, der vorschlug, dass wir nicht in jeder Wohnung einen Kühlschrank haben sollten, sondern einen Kühlkeller, um unsere Lebensmittel für das ganze Gebäude zu lagern. Es geht um die Beziehung zwischen sozialen Ungleichheiten und dem Klimawandel. Sein Vorschlag versucht beides in Angriff zu nehmen.

Die Lebensgrundlage und das Wohlbefinden einer Stadt hängen stark mit ihren Umgebungen zusammen. Was lässt sich erkennen, wenn wir uns die Verbindung zwischen Städten und deren Umwelt ansehen?
Wenn wir uns die beengte Situation in der Stadt ansehen, erleben wir diesen Strom von Menschen in die Vorstadt. Die Stadt wurde als das nachhaltige Modell des Urbanismus propagiert. Aber vielleicht fühlt sich die Stadt an diesem Punkt autonom von ihrem Territorium. Wie wir sehen, haben sich 40 Städte zu einem Netzwerk zusammengeschlossen (Anm. das City of Design Netzwerk) und tauschen Ideen und Best Practices aus, was großartig ist! Aber ich denke, es entkoppelt sie von der regionalen und nationalen Ebene. In gewisser Weise entkoppelt es die Stadt von ihrem Territorium.

Können Sie uns ein Beispiel für diese Trennung von Stadt und Umwelt geben?
Wir erleben das zum Beispiel im Augartenpark in Graz, wo die Stadt einen Strand zur Mur angelegt hat. Ich finde das großartig, weil die Stadt dort auf ein Element ihres Territoriums, das Wasser, trifft. Allerdings ist das Wasser nicht sauber genug um darin zu schwimmen. Und das meine ich damit, wenn ich sage, dass mein nächstes Projekt ein territoriales Projekt sein wird: Ich denke die nächste Aufgabe ist es, das Wasser schwimmbar zu machen.

Abschließend: Wie können wir Ihrer Meinung nach inmitten der Klimakrise und einer Pandemie das Beste aus der aktuellen Situation machen?
Die aktuelle Krise ist eine Chance für uns, die räumliche und territoriale Gerechtigkeit mit der Umwelt zu verbinden. Das bedeutet, eine gerechte Aufteilung des Raums zu haben, und deshalb sollten wir uns auf die Qualität des Raums konzentrieren. Wenn wir das tun, denke ich, haben wir alles in der Hand, um aus einer zerbrechlichen Stadt eine Stadt zu machen, die ökologisch und menschlich lebendig ist. Eine vitale Stadt.

Aglaée Degros ist eine in Graz ansässige Architektin und Stadtplanerin, die  ursprünglich aus Belgien kommt. Mit ihrem Büro Artgineering in Brüssel entwickelt und implementiert sie Entwurfsstrategien für komplexe (inter)urbane Verhältnisse mit großem Interesse an Koproduktionen und der Einbeziehung von Interessengruppen. In verschiedenen Forschungs- und Designprojekten interpretiert sie das Verhältnis von Mobilität, Landschaft und Stadtentwicklung neu.

Portrait von Aglaée Degros: www.creativeaustria.at
Institut für Städtebau TU Graz: www.tugraz.at/institute/stdb
Architekturbüro Artgineering: www.artgineering.eu