Was bedeutet es für eine Stadt, wenn KünstlerInnen sich zu PflegerInnen umschulen lassen müssen, nach der Krise viele womöglich nicht mehr in die Oper zurück kommen wollen und viele Kultureinrichtungen und Kreativbetriebe immer stärker die Rolle von gesellschaftspolitischen Akteuren in ihren Stadtvierteln übernehmen?
Ein Gespräch über das Verhältnis von Kultur, Kreativen und Kommunen und über gesellschafts- und kulturpolitische Perspektiven für die Zeit nach der Corona-Krise.
GesprächsteilnehmerInnen: Margarethe Makovec, Kunstverein <rotor>; Christian Mayer, Programmmanager Kulturjahr Graz 2020; Günter Riegler, Kulturstadtrat, Stadt Graz; Wolfgang Skerget, Leiter des Büros „Graz UNESCO City of Design“
Gesprächsleitung: Hansjürgen Schmölzer, Chefredakteur CREATIVE AUSTRIA
HANSJÜRGEN SCHMÖLZER, CREATIVE AUSTRIA
Ein Jahr ohne „normales“ Kulturleben bringt auch mit sich, dass die Stellung und Rolle von Kunst und Kultur in der Gesellschaft grundsätzlich hinterfragt und vielleicht auch neu bewertet wird. Mit welchen Perspektiven?
MARGARETHE MAKOVEC, KUNSTVEREIN ROTOR
Mir ist in den letzten Monaten aufgefallen, dass es eine enorme Wertschätzung für den Bereich der Kunst und Kultur gibt. Man fühlt das einfach. Man merkt, dass es für viele Menschen ein extremes Grundbedürfnis danach gibt. Und zwar über alle Generationen hinweg. Junge Menschen gehen gerne ins Kino, ältere vielleicht in ein sytriarte Konzert. Eingebettet in einen größeren sozialen Rahmen, in dem man danach vielleicht ein Glas Wein trinken geht etcetera. Durch den coronabedingten Wegfall dieser sozialen Auseinandersetzungs- und Begegnungsmöglichkeiten geht uns sehr viel von den Möglichkeiten des Menschseins an sich verloren, das sich ja aus dem Zusammen-Leben mit anderen konstitutiert.
Für das Kulturjahr Graz 2020 arbeiten wir gerade einem Projekt, das wir ganz bewusst „Die Schule des Wir“genannt haben. Wir wollen dabei untersuchen, von welchem „Wir“ man eigentlich spricht, wenn man sich über kulturelle Gemeinsamkeiten verständigt und auch definiert. Handelt es sich dabei um ein exklusives „Wir“ derjenigen, die immer schon nahe am Kunst und Kulturbereich gelebt und konsumiert haben, oder kann Kunst und Kultur auch eine inklusive Funktion einnehmen und sehr nahe an die Menschen herankommen. Insbesondere über den öffentlichen Raum. Wir haben das Projekt „Die Schule des Wir“ schon vor der Corona Pandemie konzipiert. Aber durch diese besondere Situation, gewinnt es nochmals eine viel umfassendere Bedeutung: KünstlerInnen erarbeiten gerade in Zusammenarbeit mit Menschen aus dem Grazer Annenviertel auf fünf Plätzen Rahmenbedingungen, die zu einem Zusammenkommen, Austausch und Aufenthalt im öffentlichen Raum anregen und dabei den Umgang mit Gemeingütern und dem Gemeinwesen als Ganzes zum Gegenstand machen.
Ich bin davon überzeugt – und die Pandemie verstärkt das nochmals deutlich – dass Kunst und Kultur viel, viel mehr zu leisten in der Lage sind, als bloß traditionelle Veranstaltungsformate zu bedienen. Die Kultureinrichtungen und Kunst und Kultur ganz generell werden in den kommenden Jahren einen Riesenbeitrag für die Gesellschaft leisten können. Mehr vielleicht, als das ohne die Pandemie möglich gewesen wäre.
SCHMÖLZER
Der Programmcall für das Kulturjahr Graz 2020 ist von der zentralen Frage ausgegangen: „Wie wollen wir leben?“ und hat auf Kultur als gemeinschaftsbildendes Element in der Gesellschaft fokussiert. Das Programm war schon vor der Pandemie fertig. Was hätte sich an diesem Programm – das jetzt wegen der Shutdowns ins Jahr 2021 verlängert wurde – verändert, wenn der Call erst nach dem Ausbruch der Pandemie gemacht worden wäre?
CHRISTIAN MAYER, KULTURJAHR GRAZ 2020
Am Grundansatz gar nichts. Ganz im Gegenteil. Der Ansatz, die Tür weit auf zu machen und Künstlerinnen und Künstler einzuladen, sich mit zukünftigen Themen für die Menschen einer Stadt zu beschäftigen hat durch die Pandemie erst richtig an Bedeutung gewonnen. Auf allen Kontinenten setzen sich Künstlerinnen und Künstler heute mit ähnlichen Fragen auseinander. Kunst wurde von Vielen oft als etwas Elitäres am Rande der Gesellschaft wahrgenommen. Heute sprechen wir viel öfter als früher von künstlerischen Ideen die zu sozialen Ideen werden. Für das Programm des Kulturjahres Graz 2020 wurde dieser Aspekt sehr stark forciert. Wir haben dazu eingeladen, transdisziplinär zu denken und zu überlegen, wie die großen globalen Entwicklungen mit den lokalen Bedingungen einer Stadt verzahnt sind. Wir müssen bedenken, Peter Sloterdijk hat das auch unterstrichen, dass die Menschen der Gegenwart in einer Lebensspanne zwei oder sogar drei Epochen erleben. Die damit einhergehenden Paradigmenwechsel kann der Mensch gar nicht mehr verarbeiten. Von dieser Grundproblematik ist auch der Call für Graz 2020 ausgegangen. Es ist darum gegangen, auf Themen zu schauen, die unsere Alltagsrealität heute formen und verändern und gleichzeitig auch die Menschen mit abzuholen und ihre unterschiedlich erlebten Alltagsrealitäten abzufragen. Wenn man eine Stadt wie Graz als Kulturstadt denkt, dann geht es natürlich immer auch darum, nach den Themen der Zeit zu fragen. Das steht sehr im Gegensatz zur „Repräsentationskultur“, die zwar immer wieder neu aufgelegt wird, aber eigentlich völlig veraltet ist.
SCHMÖLZER
Im vergangenen Herbst wurde von Graz aus die Weltkonferenz der UNESCO Cities of Design ausgerichtet, der Städte rund um den Globus angehören. Im Mittelpunkt der Konferenz sind Fragen nach der kreativen, demokratischen Gestaltbarkeit unseres Ressourcenverbrauches, der Digitalisierung und des sozialen Zusammenlebens gestanden. Welche Handlungsmöglichkeiten haben wir – auch auf kommunaler Ebene?
WOLFGANG SKERGET, GRAZ UNESCO CITY OF DESIGN
Joseph Beuys wäre heuer 100 Jahre alt geworden. Deshalb habe ich unlängst wieder einiges über ihn nachgelesen. Er hat schon vor Jahrzehnten viele Entwicklungen skizziert, die heute – insbesondere durch die Sozialen Medien – eine allgemeine Präsenz erlangt haben. Seine Fluxus Aktionen haben viel von dem vorweg genommen, was wir heute täglich auf allen sozialen Kanälen tausendfach sehen können. Kunst hatte immer auch die Rolle, Entwicklungen frühzeitig seismografisch zu erkennen und zur Debatte zu stellen. Ich finde es deshalb in diesem Kontext spannend und wichtig, die Verbindung zwischen Kunst und Kultur einerseits und den eher anwendungsorientieren Bereichen des Designs andererseits kontinuierlich auszubauen und zu stärken. Wenn wir unsere Umwelt, unseren Alltag und unser Zusammenleben konstruktiv gestalten – also „designen“ – wollen, dann braucht es zuerst immer auch Visionäre, Künstlerinnen und Künstler, die vorausschauen, experimentieren und untersuchen, ohne schon dem Diktat des Zwecks und der Nutzbarkeit unterworfen zu sein. Die Kunst kann so ein Treiber sein, die Dynamiken auslöst, die von anderen gestaltend weitergetragen werden. Wir haben bei der UNESCO City of Design Konferenz in diesem Jahr eine Vielzahl an best practice Beispielen für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens oder auch der Bedingungen unseres Ressourcenverbrauches gesehen, die genau aus dieser Verkettung von Kunst, Kultur und Design ihre Ideen gewonnen und ihre Kraft bezogen haben. Darin sehe ich auch eine Kernaufgabe des Büros Graz – UNESCO City of Design: Als ein Katalysator für solche kreativen Transferprozesse zu wirken.
SCHMÖLZER
Unabhängig von der Corona Krise lassen sich einige Themen klar benennen, die den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel der kommenden Jahrzehnte dominant beeinflussen: Klimawandel, Ressourcenknappheit, Digitalisierung und mit ihr einhergehend auch eine unausweichliche Neuverteilung von Zeit zwischen Erwerbsarbeitszeit und anderen Formen des Tätigseins. Die Stadt Graz hat vor einigen Jahren eine kulturpolitische Standortbestimmung erarbeitet, die auf gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen rekurriert hat, die sich innerhalb weniger Jahre – und durch die Corona Krise nochmals verstärkt – deutlich verändert haben. Was gilt also davon heute noch?
GÜNTER RIEGLER, KULTURSTADTRAT GRAZ
Zunächst: Wir haben diese Standortbestimmung und ein kulturpolitisches Leitbild damals erarbeitet und verschriftlicht, weil wir in der Form keines hatten. Mir ist es darum gegangen mich von kompetenten Leuten im Kulturbeirat beraten zu lassen. Ich bin ja als Betriebswirt von außen zur Kultur gekommen.
Für mich steht die Frage im Mittelpunkt: Wie können wir in der Kulturpolitik gewährleisten, dass wir „das Richtige“ tun. Sollen, so wie wir es haben, Fachbeiräte begutachten, oder soll die Politik auch steuernd eingreifen. Der Dialogprozess den wir gestartet haben hat ergeben, dass das bestehende System mit Fachbeiräten und Kulturbeirat als okay befunden wird.
Eine Frage, die mich seit dem Ausbruch der Coronakrise beschäftigt ist, ob die immer wieder zitierte Grundbedürftigkeit der Kultur aus Mitteln der öffentlichen Hand tatsächlich so gegeben ist. Wir sehen durch die Krise jetzt schon Veränderungen in der Kulturszene. KünstlerInnen, die in der Vergangenheit schon prekär gelebt haben, machen jetzt zum Beispiel Ausbildungen im Pflegebereich. Die Pandemie verändert also jetzt schon das kulturelle Gefüge der Stadt. Und die Frage ist, soll man diese Veränderungen einfach geschehen lassen oder soll man steuernd eingreifen. Die größte Sorge zum Beispiel der Bühnen Graz ist im Moment, ob die Menschen nach der Krise überhaupt ins Theater zurückkommen. Jetzt haben wir ein halbes Jahr ohne Neuinszenierungen gelebt, möglicherweise sagen viele, vor allem Ältere: Jetzt geht es auch ohne Oper.
SCHMÖLZER
Die Coronakrise als kulturelle „Flurbereinigung“? Welcher Schaden könnte da entstehen?
MAKOVEC
Wenn man zum Beispiel als Gitarristin ein Jahr ohne Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten ist, dann muss man sich nach etwas anderem umschauen um überleben zu können. Das stimmt. Aber die Frage ist doch: Was verliert eine Stadt, wenn ihr KünstlerInnen und Kreative verloren gehen. Man kann das zunächst rein ökonomisch betrachten: Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung von Kunst und Kultur ist enorm. Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums 10 Milliarden Euro pro Jahr. Aber unter den Künstlerinnen und Künstlern selbst partizipiert nur ein ganz kleiner Teil wirklich in einem gut dotierten Maß daran. Die meisten arbeiten im Prekariat. Es geht daher darum, in diesem Bereich kurz- und langfristige Ziele zu verfolgen. Kurzfristig erzeugen Sonderprojektbudgets wie zum Beispiel aktuell das Kulturjahrbudget sowohl einen USP, ein Programmangebot für die Bevölkerung, als auch regionale Wertschöpfung. Langfristig sollten wir uns im Kontext von Kunst und Kultur aber eine andere Frage stellen. Nämlich wie wir mit ihr als Gesellschaft insgesamt leben wollen und was sie auch für unseren Alltag beitragen kann. Graz hat hier enormes Potenzial und eine langfristige Strategie sollte in allen strategischen Bereichen, von der Profilbildung über Stadt- und Stadtteilentwicklung bis hin zu den Ausbildungsmöglichkeiten und dem Fördersystem auch ganzheitliche Konzepte entwickeln, die die Transferzonen im Bereich des Design und der Wirtschaft miteinschließen.
SKERGET
Ich sehe in diesem Zusammenhang die Vielschichtigkeit des Förderwesens in Graz als einen Vorteil und nicht nachteilig. Denn durch diese Diversifikation werden gleichzeitig auch Transferprozesse zwischen den verschiedenen Sektoren angestoßen. Durch die Corona-Krise ist eine gewisse Skepsis gegenüber dem „immer mehr, immer größer“ entstanden. Gerade auch die kleinteilige Ausdifferenziertheit der Struktur unserer Kultur- und Kreativszene hat sicher wesentlich dazu beigetragen, dass zumindest viele in diesem Bereich bisher einigermaßen durch die Krise gekommen sind. Die Murinsel, die wir betreiben, ist ein vergleichsweise kleiner Veranstaltungsort. Aber wir konnten immerhin 102 kleine Veranstaltungen auch unter diesen schwierigen Bedingungen durchführen. Einer der Künstler hat mir unlängst gesagt: Euer Auftrag hat mir zwei Monate lang die Miete gezahlt. Kleine schlanke Strukturen mit geringem Verwaltungsoverhead sind in solchen Situationen ein Vorteil. Die Kreativstudiengänge der FH-Joanneum bringen jedes Jahr eine große Anzahl an AbsolventInnen hervor. Und viele von ihnen beginnen dann als Ein-Personen-Unternehmen. Die haben es natürlich alle nicht leicht. Aber diese Kleinteiligkeit trägt auch zur Resilienz der Szene bei.
SCHMÖLZER
Diese Kleinteiligkeit der Szene trifft aber gleichzeitig auf globale Konzentrationsprozesse. Amazon räumt in den historischen Ortskernen ganze Handelsstraßen leer. Die Coronakrise hat der Dynamik der Verlagerung vom kleinteiligen stationären Handel zu weltmarktbeherrschenden Onlinehändlern nochmals beschleunigt. Mit weitreichenden Auswirkungen auf die Strukturen und Lebensbedingungen in den Innenstädten. Die Erdgeschosszonen der Innenstädte werden also neue und nachhaltige Nutzungskonzepte brauchen, wenn sie nicht veröden wollen. Ein Platz für die Kreativszene?
RIEGLER
Das muss man differenziert betrachten. Kunst lässt sich nicht für einen Zweck instrumentalisieren. Künstlerinnen und Künstler arbeiten ja zunächst aus ihrer Position heraus. Intrinsisch motiviert, weil sie es „machen müssen“. Einen Auftrag zum Beispiel „zur Belebung der Innenstädte“ zu erteilen, wird so nicht funktionieren.
Aber wir können uns an Künstlerinnen und Künstler mit Fragestellungen wenden. Das war auch der Gedankenansatz für den Call des Kulturjahres Graz 2020. Wir haben Fragen gestellt zu den großen Zukunftsthemen: Klimawandel. Digitalisierung. Neue Arbeitswelten. Wir haben dazu eingeladen, mit den Mitteln der Kunst für uns nach vorne zu blicken. Und nicht in erster Linie zurück. Kunst und Kultur kann uns neue Perspektiven eröffnen, aber mir ist als Kulturpolitiker durchaus bewusst, dass man Kunst nicht instrumentalisieren kann.
SCHMÖLZER
Neue Perspektiven in den gesellschaftspolitischen Diskurs mit Kunst und Kulturprojekten einzubringen ist ja seit vielen Jahren ein Kern der Arbeit des Kunstvereins rotor im Grazer Annenviertel. Sowohl in einem internationalen, vor allem auf Süd-Ost-Europa fokussierten Kontext gleichzeitig vor allem aber auch im unmittelbaren lokalen Umfeld des Grazer Annenviertels. Mit welchen Zielen?
MAKOVEC
Künstlerinnen und Künstler erkennen oft Dinge und Zusammenhänge, die noch latent und nicht unmittelbar sichtbar sind. Sie übernehmen oft die Rolle eines Seismographen. Formulieren einen erweiterten Denkraum und auch Kritik. Das versuchen wir bei vielen Projekten die wir machen auch in den uns unmittelbar umgebenden öffentlichen Raum hinein zu tragen. Denn dann wird Kunst erst richtig interessant. Wenn es auch gelingt unmittelbar und lokal eine direkte Involvierung der Menschen zu erzeugen. Graz hat ein hohes Bildungsniveau. Es gibt viele Kunst- und Kulturinteressierte. Durch den Schritt in den öffentlichen Raum erzeugen wir Involvierung und öffentlichen Diskurs. Das ist gerade in einer Zeit, in der die Gesellschaft in immer isolierter werdende soziale Blasen zerfällt unheimlich wichtig. Und in multikulturell geprägten Vierteln wie im Grazer Lend oder Gries steckt da wegen ihre Vielfalt ein ganz besonderes Potenzial.
SCHMÖLZER
Während man in kleinteilig gewachsenen Stadtvierteln in den historischen Ortskernen noch auf vielschichtige lokale soziale Beziehungsnetzwerke trifft und auf diese auch in der Kulturarbeit rekurrieren kann, ist das bei neu gebauten Greenfieldprojekten wie dem neu in Bau befindlichen Grazer Stadtteil „Reininghaus“ aber nicht der Fall. Keiner kennt keinen. Außer den Menschen in der jeweils eigenen sozialen Onlineblase. Welche Rolle spielt die Kultur bei solchen dynamischen Stadtentwicklungsprozessen für die Gesellschaft die sich dort erst bildet?
RIEGLER
Das ist eines der Themen, das mich kulturpolitisch am meisten beschäftigt: Wie wir aus Reininghaus nicht nur eine Schlafstadt, sondern auch einen Ort des sozialen Miteinander mit Kunst, Kultur, Design und einem lebendigen Kreativsektor machen können. Mitten in diesem Areal steht noch die Alte Tennenmälzerei der früheren Reininghaus Brauerei. Dieser alte Gebäudekomplex bietet ein vielfältiges Nutzungspotenzial insbesondere auch für die Kultur- und Kreativszene. Es finden dort jetzt schon vielfältige kreative Zwischennutzungen statt und ich denke, dass wir dort schon bald von einem nächsten Entwicklungsschritt berichten können.
SCHMÖLZER
Die Kulturpolitik kann dabei in erster Linie mit den ihr zur Verfügung stehenden Förderinstrumenten stimulierend eingreifen. Neben den Basisfinanzierungen für Kultureinrichtungen und Einzelprojektantragsförderungen wurde in Graz mit dem Kulturjahrcall nun erstmals auch ein größerer, thematisch definierter Themencall als Förderinstrument eingesetzt. Soll das wiederholt werden? Vielleicht auch wieder mit einem Fokus auf transdisziplinäre Arbeiten?
RIEGLER
Ja. Ich möchte das zu einem zyklischen Element der Kulturpolitik in Graz machen. Alle paar Jahre einmal hinzuschauen auf die großen Fragestellungen unseres Lebens und die Zukunft der Städte und gezielt Künstlerinnen und Künstler dazu zu befragen. Wir müssen natürlich überlegen, in welchem Setting das stattfinden soll. Soll das weiterhin, so wie dieses Mal, innerhalb des Kulturamtes abgewickelt werden. Oder braucht es eine andere institutionalisierte Form? Wollen wir das unabhängiger von den jeweils handelnden politischen Akteuren machen? Da wir das erst einmal – und da ausgerechnet auch noch in der Corona Krise – gemacht haben, ist das Ganze noch sehr fragil. Aber ich sehe gerade in dieser Zukunftsorientierung die Chance, dass man es so auch rechtfertigen kann, es aus Steuergeldern zu machen.
SCHMÖLZER
Als der steirische herbst gegründet worden ist, gab es noch den Eisernen Vorhang. Graz liegt geografisch an einem Schnittpunkt zwischen dem Alpenraum dem Balkan und dem Pannonischen Raum und damit damals auch unmittelbar an der Grenze zwischen westlichen Demokratie und Kommunistischen Ländern. Der kulturelle Austausch in diesem „Trigon“ Raum gründete auf lang gewachsene Beziehungen und war – zumindest im Kulturbereich – auch dazu in der Lage, solche damals scheinbar unüberwindbaren Grenzen zu überwinden. Heute erleben wir in unseren unmittelbaren Nachbarländern wieder eine Unterminierung demokratischer Grundrechte und Grundfreiheiten. In Ungarn mit Orban und der Fidesz. Und welchen Weg die Regierung Jansa in Slowenien weiter einschlagen können wird, ist noch nicht abzusehen. Welche kulturpolitische Rolle nimmt die Menschenrechtsstadt Graz in dieser geografischen und historischen Verortung heute ein und welche Aufgaben stellen sich dabei auch der Kulturpolitik in der Auseinandersetzung damit?
SKERGET
Ich hatte als ganz junger Journalist noch die Gelegenheit eines der letzten Interviews mit Hanns Koren zu führen, ohne dessen politische Unterstützung die Gründung des steirischen herbst in seiner späteren Form nicht möglich gewesen wäre.
Das Interessante an ihm war: Koren war von seiner Herkunft und auch seinem wissenschaftlichen Hintergrund als – wie man die Disziplin damals noch genannt hat – „Volkskundler“ ein gestandener Konservativer. Trotzdem hat er sich als Kulturpolitiker mit Nachdruck dafür eingesetzt, dass die damaligen Initiatoren des steirischen herbst, inhaltlich vollkommen unabhängig arbeiten können und sich dabei auch selbst stark exponiert und Angriffen ausgesetzt. Diese hohe Liberalität war damals auch die Hochblüte der steirischen Kulturpolitik, die weit über die Steiermark hinaus gestrahlt hat. Wenn man an das Provokationspotenzial damaliger steirischer herbst Plakate zurückdenkt: Vor dem Hintergrund eines aktuell immer stärker von „political correctness“ dominierten Diskurses käme man damit heute in Teufels Küche. Was damals mit Blickrichtung auf den Trigon Raum und den ihn durchschneidenden Eisernen Vorhang möglich war, hat also in erster Linie mit einer damaligen politischen und kulturellen Grundstimmung in Graz und nicht nur mit der Grenzlage an sich zu tun.
MAYER
Aus dieser geschichtlichen Perspektive frage ich mich: Woran arbeiten wir uns denn heute ab? Woran reibt sich die Kunst heute? Wo sticht sie durch? Das absurde ist ja – und darin ist das kapitalistische System perfekt – es versteht es hervorragend, den Widerspruch in sich zu integrieren und ihn dann für sich nutzbar zu machen. Denken wir an die Werbung: Die ist mitunter frecher und radikaler als die Kunst heute. Und auf der anderen Seite blicken wir auf die großen Kulturinstitutionen, sagen wir zum Beispiel die Salzburger Festspiele. Schauen wir uns an, was passiert da …: Wo hat die Kultur noch Power? Wo kann sie noch etwas bewegen? Darauf müssen wir uns konzentrieren.
MAKOVEC
Wenn man die 60er, 70er Jahre mit heute vergleicht, muss man schon sagen, dass damals der „braune“ Geist in Graz noch viel stärker war. Deshalb waren die Künstlerinnen und Künstler aber auch die Kulturpolitiker, die – zum Beispiel beim steirischen herbst – sich einen Freiraum genommen und verschafft haben noch viel exponierter als heute.
Aber wir sehen heute – und da wird die geografische Lage von Graz als Scharnier zu Süd-Ost-Europa wieder sehr interessant – dass sich in diesem Raum wieder eine forcierte Tendenz zur Nationalstaatlichkeit breit macht. Ähnlich wie vor dem ersten Weltkrieg. Und da halte ich es geradezu für eine Notwendigkeit, dass wir Kulturprojekte entwickeln und auch zur Finanzierung einreichen, die dem einen größeren Europäischen Gedanken entgegenstellen. Denn wenn man das nicht tut, dann trocknen diese Regionen auch intellektuell aus: Budapest hat einen enormen brain-drain zu verzeichnen. In liberalere Städte in anderen Europäischen Ländern wie zum Beispiel Berlin.
SCHMÖLZER
Einen brain-drain von Kreativen gibt es aber auch aus Städten wie Graz. Und das hängt hier zunächst nicht mit den liberal-demokratischen Umständen, sondern vielmehr mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und Entwicklungsperspektiven für KünstlerInnen und Kreative zusammen. Die Kleinteiligkeit der Kreativszene mit ihren vielen EPUs, die wir vorhin als Resilienzvorteil gepriesen haben ist nämlich gleichzeitig auch ihre Schwäche.
Wenn wir uns beispielsweise die Filmbranche ansehen, in der wir auch selbst tätig sind: Bis dato gelingt es noch nicht, in relevanter Größe Produktionen und Produktionsbudgets in die Stadt zu holen, obwohl es in Graz viele qualifizierte Leute und auch die entsprechenden Ausbildungseinrichtungen dazu gibt. Die guten und qualifizierten Leute gehen deshalb dorthin, wo sie auch an Topprojekten arbeiten können. Und das ist dort, wo auch die Rahmenbedingungen für große Produktionen vorhanden sind. Beim Film ist das im Wesentlichen von zwei Faktoren abhängig: Produktionfirmen von ausreichender Größe und mit ausreichendem Eigenkapital, um auch größere Produktionen stemmen zu können. Und Tax-Incentives am Produktionsstandort. Der Grund, warum Städte wie Stuttgart oder München auch für große Postproduction-Aufträge der ganz, ganz großen Hollywood Produktionen interessant sind, sind im Wesentlichen die Steueranreize, die Filmproduktionen dort geboten werden. Das betrifft vor allem den Postproducion-Bereich, der beim Film durch die zunehmende Digitalisierung der Filmproduktion mittlerweile den weit größeren Teil der Budgets umsetzt. Das hat man in Österreich noch komplett verschlafen. Wir begnügen uns mit den im Wesentlichen auf die lokale Szene fokussierten Förderinstrumenten und bleiben deshalb im Klein-klein stecken.
In unserer Firma haben wir auch einen Visual Effects Bereich mit dem wir als Subauftragnehmerin seit fast 10 Jahren auch für große Hollywoodproduktionen arbeiten. Aber es ist völlig absurd: Die Kollegin die dafür verantwortlich ist, arbeitet wegen dieser Förderbedingungen seit Jahren abwechselnd in Berlin, München, Sydney oder sonst wo, weil dort wegen der Förderbestimmungen auch die Umsätze gemacht werden müssen. Damit bleibt aber auch der Löwenanteil der daraus zu erzielenden Wertschöpfung in dieser Region.
Wenn wir also einen brain-drain von Kreativen aus Graz verhindern wollen, dann muss man auch politisch an diesen strukturellen Fragen mit Nachdruck ansetzen. Zwar liegt eine wesentliche formale Zuständigkeit dazu beim Finanzministerium. Aber ich glaube, dass es Aufgabe der Kulturstädte ist, dafür auf Bundesebene auch das entsprechende Lobbying zu betreiben. Denn sie sind es auch, die von der Schaffung attraktiver steuerlicher Rahmenbedingungen in diesem Bereich in letzter Konsequenz am meisten profitieren würden.
Es versammelt sich in Graz bei der DIAGONALE zwar einmal im Jahr die gesamte heimische Filmszene. Aber wenn das Festival vorbei ist, sind auch fast alle gleich wieder weg. Produziert werden auch die – vergleichsweise kleinen – österreichischen Produktionen im Wesentlichen in Wien oder anderswo. Postproduction findet bei uns bislang bloß auf lokalem Level statt. Internationale Koproduktionen werden bei uns im Wesentlichen lediglich aus einer touristischen Perspektive wirklich gefördert. Das ist ein Konstruktionsfehler der behoben gehört, weil wir damit viel nachhaltiger wirkende Wertschöpfungspotenziale im Bereich der Postproduction systemimmanent verschenken. Um das zu beheben braucht es zuallererst den politischen Willen dazu. Man bräuchte nur das Fördersystem und den steuerrechtlichen Rahmen z.B. von Baden-Württemberg oder Bayern auf Österreich zu übertragen. Das würde gerade für Graz enorme Chancen öffnen: Mit der Kunstuniversität und der FH-Joanneum haben wir Ausbildungsstätten, die gute Leute hervorbringen können: Vom Ton über die Filmmusik bis zu Visual Effects und Editing. Aber diese Leute müssen entweder die Stadt verlassen, wenn sie wirklich ambitioniert sind, oder bleiben – wenn sie von ihrer Arbeit auch leben können wollen – im Wesentlichen im Provinzmarkt des Werbe- und Industriefilms stecken und verkümmern dort mit ihren künstlerischen Talenten.
MAYER
Ich sehe das in einem noch breiteren Kontext: Ganz generell hat sich die Wahrnehmung von Kunst und künstlerischen Dingen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Kunst hat nicht mehr so stark den Geruch des „elfenbeinartigen“ sondern ist viel mehr zum Anfassen. Das sieht man auch im Museumsbereich, in dem uns vor allem England viel vorgemacht und vorgelebt hat: Museen und die Kunst die dort präsentiert wird sind nicht in sich abgeschlossen. Die öffentlichen Museen sind weitestgehend frei – also auch bei freiem Eintritt – zugänglich und so auch viel mehr Teil des Alltags der Menschen. Gleichzeitig beobachtet man auch eine Erweiterung des Kunstbegriffes immer stärker hin zur gesellschaftspolitischen Rolle der Kunst. Das setzt sich im Bereich der Kunstvermittlung fort, in der KuratorInnen und Vermittlungsteams immer stärker in einem transdisziplinären Kontext denken und arbeiten. Das heißt, wir können hier einen sich wechselseitig beeinflussenden Veränderungsprozess beobachten, der sowohl von einem Wandel des Verhältnisses der Gesellschaft zum Kunstbetrieb als auch umgekehrt von einem Wandel des Kunstbetriebes selbst mit einer verstärkten Zuwendung zu gesellschaftspolitischen Fragen vorangetrieben wird. Dabei lösen sich durch die Digitalisierung auch alte Grenzen zwischen unterschiedlichen Sektoren mit großer Geschwindigkeit auf. Wir können uns heute zu jeder Zeit online mit allen Themen beschäftigen, die uns interessieren. Netflix etc. sind rund um die Uhr verfügbar. Warum soll ich mich also beispielsweise mit beschränkten Öffnungszeiten heimischer Museen herumschlagen, wenn ich das, was mich interessiert anderswo auch um 22., 23.00 Uhr – wenn ich eben gerade Zeit und Lust dazu habe, geboten wird. Auf diese Veränderungsprozesse müssen auch die Museen entsprechend reagieren. Und reagieren können.
SKERGET
Ein Hinderungsgrund, warum der wohl unausweichliche Wandel in diesem Bereich bei uns noch nicht wirklich passiert ist eine gewisse Zahlenfixiertheit der Aufsichtsgremien von Kultureinrichtungen. Besucherzahlen, Besucherumsätze gelten vielerorts – auch bei uns – immer noch als die zentralen Erfolgsparameter von Museen und anderen Kultureinrichtungen. Damit gewinnt man aber kein eigentlich umfassendes Gesamtbild. Selbst wenn man Kunst und Kultur nur aus einer rein wirtschaftlichen Perspektive betrachtet – und das wäre, wie wir heute schon besprochen haben, eine viel zu enge Betrachtungsweise – dann gewinnt man aus den Betriebskennzahlen eines Kulturbetriebes allein kein aussagekräftiges Bild. Denn im Tourismusland Österreich leben in Wahrheit ganz andere Sektoren und Betriebe von einem kulturellen Basisangebot, das zwar von den Kultureinrichtungen erzeugt, aber ganz woanders – zum Beispiel in den Tourismusbetrieben – monetarisiert wird.
SCHMÖLZER
Im Bereich des Tourismus hat man das längst erkannt. Im Rahmen unserer Projektplattform CREATIVE AUSTRIA stehen wir in regelmäßigem Austausch mit den Kultur- und Tourismusverantwortlichen der österreichischen Kulturdestinationen. Das gilt nicht nur für Kulturstädte wie Graz, Linz oder Salzburg. Christian Schützinger, der Geschäftsführer von Vorarlberg Tourismus – also eine Region von der man zunächst einmal denken würde, die leben hauptsächlich von Winter- und Bergsport – hat seine Destinationsstrategie ganz zentral auf Kultur ausgerichtet. Für ihn ist das Kulturangebot einer der zentralen Qualitätsaspekte, der aber gleichzeitig auch dazu dient, eine „Erzählung“ über die Destination zu entwickeln. In Linz werden gerade Begegnungsformate für One-to-one Begegnungen und Gespräche zwischen KünstlerInnen und Besuchern entwickelt. Das hat alles nichts mehr mit vordergründiger Quantifizierbarkeit zu tun sondern dient dem „Narrativ“.
MAYER
Sowohl die Digitalisierung als auch die Coronakrise rücken in diesem Kontext wieder einen Aspekt in den Vordergrund, der aus meiner Sicht insbesondere für Museen neue Chancenpotenziale öffnet. Nämlich der Aspekt des für den jeweiligen Ort und für das jeweilige Haus Spezifischen. Vor Corona hat man ja massenweise „Weltkunst“ durch die Gegend geschippert und in Form von zusammengetragenen Blockbusterausstellungen als Tourismusmagnet aufgestellt. In den letzten Monaten hat das coronabedingt nicht mehr funktioniert. Weder das durch die Gegend schippern der Weltkunst noch die Generierung eines Massenandranges daraus.
Da haben die KuratorInnen dann angefangen wieder genauer in die eigenen Sammlungsbestände zu schauen und waren teilweise ganz überrascht, welche Schätze da zu heben sind.
Und ich denke mir – ganz grundsätzlich: Vielleicht ist das das Gebot der Stunde. Auch nachhaltig gedacht. Dass wir mit unseren Kulturkonzepten zunächst aus unseren lokalen Rahmenbedingungen herausarbeiten. Dinge machen, die man hier und nur hier physisch ansehen und vor Ort erleben kann. Für die es einen tatsächlichen Grund für das Hier und Jetzt gibt.
Denn wir leben ja heute in dem Bewusstsein, dass wir uns alles von überall her zu jeder beliebigen Zeit digital auf unser Handy holen können. Und gerade deshalb hat das auch keine wirkliche Bedeutung mehr für uns.
Die Zukunft der Kultur gehört wohl wieder den echten Dingen im echten Leben.