Corona zum Trotz: Ideen kennen keine Grenzen. Kreativität ist ansteckend, aber nicht gefährlich. Kultur bleibt unser Überlebensmittel. So geht CREATIVE AUSTRIA damit um:
Wenn die Conditio Humana durch multiple Krisen auf dem Prüfstand steht, dann müssen wir uns auch wieder den wesentlichen Fragen zuwenden:
Wie wollen wir leben?
Immanuel Kant sieht die Bestimmung des Menschen darin, ein willensfähiges, kulturschaffendes Wesen zu sein.
Diese Bestimmung definiert auch sein Verhältnis zur Natur. Denn mit seiner Fähigkeit, die Natur willentlich zu überformen und gestalten, ist auch eine moralische Verantwortung und Verpflichtung verbunden. Kant leitet daraus den kategorischen Imperativ ab: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Ohne diesen moralischen Leitsatz ist Zivilisation nicht denkbar. Sind Menschenwürde und Menschenrechte nicht definierbar. Er gilt auch und gerade in Krisenzeiten.
In ihrem philosophischen Hauptwerk „Vita activa oder vom tätigen Leben” (Englisch „The Human Condition“) untersucht Hannah Arendt die Frage nach der Rolle des „handelnden Menschen“ in der Massengesellschaft der Gegenwart. Für Arendt bildet das Handeln die fundamentale Eigenschaft des Menschseins. Es manifestiert sich in Interaktion und Kommunikation und verlangt auch nach dem „Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick“. Durch sein Handeln wird der Mensch zu einem sozialen und politischen Wesen in der Gemeinschaft. Zu einem „Zoon Politicon“. Arendt analysiert in diesem Zusammenhang die historischen Bedeutungsverschiebungen und laufenden gesellschaftlichen und ideologischen Umdeutungen von grundlegenden Begriffen wie Freiheit, Menschenwürde oder Glück und die damit verbundenen Veränderungen der aktiven Mitwirkungsmöglichkeiten der Menschen am öffentlichen und gemeinschaftlichen Leben.
Mit Blick auf die Lebensbedingungen und existentielle Fremdbestimmheit der Industriearbeiterschaft während der ersten Industriellen Revolution, stellt Arendt den rein auf den Erhalt seiner materiellen Existenz zurück geworfenen arbeitenden Menschen als „Animal Laborans“ dem selbstbestimmt schaffenden und die Bedingungen seiner Existenz gestaltenden Menschen, den „Homo Faber“ gegenüber.
Die Deutungshoheit über Begriffe bestimmt die Verfasstheit der Gesellschaft.
Die Bedingungen unseres Menschseins hängen dabei wesentlich von den vorherrschenden Wertungen und Deutungen zentraler Begriffe ab. Gilt das Recht auf Menschenwürde universell für alle Menschen gleich? Wir können in Europa aktuell beobachten, dass etliche Regierungen diese fundamentale Grundlage demokratischer Rechtsstaaten gerade zur Disposition stellen. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte scheint für manche bereits außer Kraft: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Gilt nicht mehr für alle.
Und jetzt noch Corona.
Die Gefahr von COVID-19 besteht nicht nur in der Ausbreitung des Virus selbst.
Sondern auch darin, dass sich in seinem Kielwasser jene Konzepte weiter Bahn brechen, die die noch verbliebenen freien, offenen und demokratischen Länder ebenfalls in autoritär geprägte Postdemokratien verwandeln können.
Während bisher der „Kampf gegen den Terror“ als Argument für die Implementierung überwachungsstaatlicher Strukturen herhalten musste, gibt es jetzt ein viel besseres, weil scheinbar außerhalb allfälliger ideologischer Kritik stehendes Argument: Das Virus.
Wir werden nicht lange warten müssen, bis auch jene Politiker in Europa und anderswo, für die Machterhalt durch Kontrolle mehr zählt, als eine offene demokratische Gesellschaft, dieses Argument aufgreifen werden: Zu „unserer eigenen Sicherheit“ wäre es sinnvoll, das digitale Überwachungsnetz dichter zu knüpfen. Damit könne man drohende Pandemien wesentlich wirkungsvoller eindämmen. China habe gezeigt, wie es geht. COVID-19 könnte sich nebenbei auch zu einem höchst ansteckenden Überträger für die weitere globale Verbreitung des „Überwachungskapitalismus“ entwickeln, den Shoshana Zuboff in ihrem viel beachteten Buch beschreiben hat.
Wie also wollen wir leben?
Freiheit und Sicherheit stehen seit je her in einem Spannungsverhältnis zueinander. Beides zugleich in Absolutheit kann es nicht geben. Wünschen wir uns eine Gesellschaft, die dem umfassend überwachten „Animal Laborans“ maximale Sicherheit bei minimaler Freiheit bietet, oder eine offene und freie Gesellschaft, die dem „Homo Faber“ den Raum für freie kreative Entfaltung und demokratische Mitgestaltung der Gesellschaft überlässt? Restrisiko miteingeschlossen.
Wenn die Bestimmung des Menschen darin liegt, im Kant´schen Sinne ein kulturschaffendes Wesen zu sein, dann gilt diese Bestimmung für jeden Einzelnen. Als Individuum. Aber sie bedarf zu ihrer Entfaltung gleichzeitig des notwendigen demokratischen und sozialen Freiraumes in der Gesellschaft. Mit Meinungs- und Medienfreiheit, gesicherten Grundlagen zur Teilhabe, Mitgestaltung und demokratischer Ablöse von Herrschenden, sowie funktionierender Gewaltenteilung auf der Grundlage des Rechtsstaatlichkeitsprinzips zur Absicherung der Grund- und Freiheitsrechte. Alles bis vor kurzem noch selbstverständliche Grundpfeiler demokratischer Staaten, die in jüngerer Zeit in vielen demokratischen Staaten zunehmend zu erodieren scheinen.
Angst und Herrschaft.
COVID-19 beschert der Welt einen weitreichenden Rückzug ins Private. Hoffentlich nur vorübergehend. Denn die Vereinzelung der Menschen in ihren gesellschaftlichen Mikrofilterbubbles ist gleichzeitig auch eine potenzielle Bedrohung für die Demokratie als solche. Der gesellschaftliche Zerfall schafft die Grundlage für Meinungs- und Wahlmanipulationen. Der Cambridge Analytica Skandal hat uns das gezeigt.
Die multiplen aktuellen Krisen machen uns gerade besonders deutlich, wie wichtig verlässliche, von politischer Einflussnahme unabhängige öffentlich-rechtliche Massenmedien sind, deren Informationen wir vertrauen können ohne befürchten zu müssen, dass diese Medien von beherrschenden Eliten für deren Interessen oder Propagandazwecke manipuliert werden.
In einer Zeit, in der der Staat den Rückzug ins Private als behördliche Schutzmaßnahme anordnet, bleiben unabhängige öffentlich-rechtlichen Medien die letzte gesamtgesellschaftliche Klammer jenseits von Teilöffentlichkeiten. Wenn alle in ihren Wohnzimmern sitzen, übernehmen die öffentlich-rechtlichen Medien die Funktion der Agora. Des Versammlungsplatzes der demokratischen Gemeinschaft.
Sie sind in ihrer demokratiepolitischen Funktion auch nicht mit privaten Medien gleichsetzbar, selbst wenn diese zu jenen Medientiteln gehören sollten, deren Redaktionen man Qualitätsjournalismus zubilligt. Denn diese haben private Eigentümer. Mit privaten Interessen. Interessen, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen. Auch die Washington Post gehört Jeff Bezos.
Und die Boulevardmedien machen ihr Geschäft ohnehin mit dem Schüren von Ängsten. Egal ob rational oder irrational. Sie bilden eine Symbiose und natürliche Interessensgemeinschaft mit postdemokratischen Populisten, die auf den Wellen dieser Ängste surfen und diese auch, wo möglich, selbst erzeugen. Ohne unabhängige, gesicherte Informationen aus verlässlichen öffentlich-rechtlichen Medienquellen sind alle daran anschließenden und aufbauenden Debatten in Social Media Netzwerken bloß Spekulationen, Propaganda oder Mikroschnappschüsse ohne gesicherten Gesamtüberblick.
Demokratie gilt es täglich neu zu erarbeiten.
Niemand wird aktuell bestreiten, dass die Anordnungen und Zwangsmaßnahmen des Staates von dem redlichen Bemühen getragen sind, die weitere Ausbreitung von COVID-19 bestmöglich einzudämmen. Deshalb werden sie auch akzeptiert.
Aber sie haben auch einen gefährlichen Begleiteffekt jenseits der Virusbekämpfung: Wir gewöhnen uns an Zwangsmaßnahmen an sich. Diese werden „normaler“ Bestandteil des täglichen Lebens. Wie werden postdemokratische Populisten diese Gewöhnungseffekte für ihre Interessen des dauerhaften Machterhaltes zu nützen versuchen, wenn die Pandemie einmal vorbei ist? Wir müssen wachsam sein.
Der „handelnde Mensch“ im Sinne von Hannah Arendt ist heute heraus gefordert, seine Handlungsfreiheit zu verteidigen und, wo nötig, wieder zu erstreiten. Die dauerhafte Absicherung von Bedingungen, die uns eine „Vita Activa“ in demokratischer sozialer Gemeinschaft ermöglichen, erfordert Aufmerksamkeit und Streitbarkeit.
TROTZ DEM als Prinzip und Wegweiser.
Wie gehen wir nun in der kleinen CREATIVE AUSTRIA Redaktion mit dieser aktuellen Lage um?
Unser Prinzip lautet in einem Wort zusammengefasst: TROTZDEM.
Auch wenn Kulturveranstaltungen jetzt reihenweise abgesagt werden, lassen wir die Artikel dazu trotzdem online. Hinter jeder abgesagten Kulturveranstaltung, jedem Festival oder nicht geöffneten Ausstellung stehen die Ideen, die Kreativität, die Anliegen und die Arbeit von „handelnden Menschen“. Was sich die Künstlerinnen und Künstler, Intendantinnen und Intendanten, Kuratorinnen und Kuratoren dabei gedacht haben, als sie ihre Programme ausgearbeitet haben, kann man trotzdem weiterhin auf deren Homepages nachlesen. Wir laden herzlich dazu ein.
Wir wollen diese Zeit des verordneten Teilrückzuges ins Private aber auch dazu nutzen, im Rahmen unserer redaktionellen Kapazitäten Wegweiser für österreichische Kulturangebote zu erstellen, zu denen man auch von zuhause aus Zugang hat. Film, Literatur, Musik, Podcasts kann man trotzdem überall rezipieren. Mit den Themen, mit denen sich Festivals, Ausstellungen oder Symposien auseinander setzen, kann man sich trotzdem beschäftigen. Dazu werden wir in der kommenden Zeit laufend kleine Orientierungshilfen anbieten.
Denn auch wenn unsere Bewegungsfreiheit und das öffentliche Leben gerade eingeschränkt sind: Ideen kennen trotzdem keine Grenzen. Diskurs und Kritik sind trotzdem nötig.
Wir wollen ja trotzdem nicht leben, wie der Mensch als „Animal Laborans“ der durch die äußeren Umstände und Zwänge auf die reine Existenzerhaltung zurück geworfen wird, sondern wie der „Homo Faber“, der sich ermächtigt weiß, in einer offenen, demokratischen Gesellschaft, die Welt in sozialer Gemeinschaft zu gestalten.
Und dazu ist die Kultur sein Überlebensmittel.
TROTZ DEM.
- März 2020