„Kunstbasierte kreative Lösungen für die Wirtschaft“ / Doris Rothauer

Doris Rothbauer, Kulturmanagerin

Neue Synergien zwischen zwei Welten

von Doris Rothauer

Die Kunst geht abseits gewohnter Denkpfade immer schon ihre eigenen Wege. Wesentlich dafür ist die Kreativität, eine Problemlösungskompetenz, die auch in der Wirtschaft zunehmend wichtiger wird, um innovative Lösungen zu finden, und vorhandene Potenziale zu entfalten.

„Design for the real world“ lautet der programmatische Titel jenes Buches, mit dem der visionäre österreichische Designer und Theoretiker Victor Papanek das heutige Designverständnis maßgeblich veränderte. Papanek erkannte bereits in den 1960er-Jahren die Bedeutung des sozialen Kontextes von Design, wonach jegliche Gestaltung  entsprechende gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Konsequenzen nach sich zieht (Papanek 1984). In seiner legendären Streitschrift forderte er einen bewussteren Umgang mit dieser Verantwortung ein. Zu einer Zeit, in der der Glaube an ein ungehemmtes Wachstum einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung ermöglichte, blieb seine Mission allerdings zunächst weitgehend unverstanden.
Was interessanterweise im Titel als Verweis steckt, ist die Tatsache, dass Design offensichtlich nichts mit der realen Welt zu tun hat. Eine Auffassung und Entwicklungsgeschichte, die in den letzten 200 Jahren auf die Kunst im besonderen Maße zutrifft: Hier die Kunst, dort das Leben. Ein Leben, das maßgeblich von der Wirtschaft dominiert wird.
Als angewandte Kunstdisziplin ist Design heute ein ganz wichtiger Teil der Gesellschaft und Wirtschaft, ebenso wie die meisten Kreativdisziplinen, die gegenwärtig unter dem Dachbegriff der Kreativwirtschaft firmieren. Sie tragen wesentlich zu unserer Innovationsfähigkeit bei – auch im Sinne der Generierung sozialer Innovationen. Demgegenüber ist die Rolle der Kunst im realen Leben noch immer sehr traditionell auf eine elitäre Unterhaltungs- und Repräsentationsfunktion beschränkt, trotz Erweiterungen des Kunstbegriffes und interventionistischer Praktiken. Kunst und Wirtschaft sind vielfach nach wie vor zwei getrennte, um nicht zu sagen gegensätzliche Welten. Warum das so ist? Dafür mag eine einfache Erklärung dienen: Sie unterliegen grundverschiedenen Paradigmen und Werten.

Kreativität als Problemlösungskonzept

Unsere Wirtschaft und Arbeitsgesellschaft war im 20. Jahrhundert von Wachstum und Messbarkeit geprägt. Demgegenüber steht das Paradigma der Kreativität im Zentrum der Kunst – etwas nicht Erfassbares, Messbares. Diese scheinbaren Gegensätze lassen sich heute aber in einem anderen Licht betrachten. Denn was uns einen noch nie dagewesenen Entwicklungs- und Wohlstand in den Industrieländern gebracht hat, wird zunehmend hinterfragt: Auf wessen Kosten und mit welchen Konsequenzen können wir weiterhin die Produktivität erhöhen, dem Leistungsdruck folgen, die Ressourcen ausbeuten? Während die Paradigmen der Industriegesellschaft auf eine Ressourcenausbeutung hinauslaufen, steht Kreativität für eine Potenzialentfaltung.
Aus der Neurologie wissen wir heute, dass Kreativität unter anderem das Bewegen in Spannungsfeldern bedeutet. Kreativität ist eine Problemlösungskompetenz, die vom Perspektivenwechsel lebt, vom freien Denken, das sich nicht an gewohnten Denkpfaden orientiert, von der Fähigkeit und Offenheit, unser Wissen immer wieder neu zu verknüpfen, statt es routinemäßig zu wiederholen und abzuspeichern.
Und genau das brauchen wir heute. Warum? Weil Business as usual nicht mehr funktioniert. Wir erleben den Zusammenbruch eingefahrener Strukturen, Systeme und Mechanismen tagtäglich, im Kleinen wie im Großen. Der Umgang damit sowie der Aufbau alternativer Modelle erfordert neue Denk- und Handlungsweisen, die noch nicht erprobt sind.
Künstler und Kreativschaffende leben und arbeiten ständig im Spannungsfeld von Chaos und Ordnung, Fantasie und Realität, Improvisation und Perfektion. Was wir heute über die Möglichkeiten zur Förderung unserer individuellen Kreativität wissen, tun Künstler und Kreativschaffende selbstverständlich: Ablenkungen nachgehen, Gedankenspiele zulassen, Ort und Perspektive wechseln, sich in unbekannte Bereiche vorwagen, von Konventionen und Erwartungen loslösen, ungewöhnliche Fragen stellen, scheinbar Irrelevantes in Betracht ziehen. Aber auch Rituale und formale Vorgaben, enorme Disziplin und Hartnäckigkeit, Streben nach höchster Perfektion gehören zum Repertoire.
In diesem Sinne können wir Kunst und Kreativschaffen als Lernfelder betrachten. Lernfelder, die auch in der Wirtschaft Sinn machen. Was können Unternehmen von Künstlern lernen, um mit der steigenden Unsicherheit und Komplexität sowie dem Innovationsdruck umzugehen? Das Gleiche gilt auf persönlicher Ebene. Wir müssen zunehmend lernen, aus Unsicherheiten heraus zu improvisieren, mit dem gleich hohen Anspruch wie unter perfekten Rahmenbedingungen. Übertragen auf das „reale“ Leben geht es um kurzfristige, rasche Entscheidungen und Problemlösungen, die nicht abgesichert sind, die nicht vorbereitet, nicht lange geplant werden können.

Methoden, um künstlerisches Denken und Handeln in der Wirtschaft zu verankern

Unter dem Begriff arts-based learning, ein zunächst in der Pädagogik entwickeltes Instrument zur Förderung der Lernfähigkeit mittels künstlerischer Erfahrung, versucht man künstlerisches Denken und Handeln beispielsweise auf Führungskräftetrainings und Organisationsentwicklungsprozesse anzuwenden. Ausgehend von den USA und Großbritannien hat sich dazu seit rund 15 Jahren eine neue künstlerische Interventionspraxis vor allem in der darstellenden Kunst und der Musik entwickelt: Arts-in-Business (vgl. u.a. Seifter/Buswick 2005; Darso 2004; Biehl-Missal 2011). Vom Prozess der Komposition über die Virtuosität am Instrument bis zum Zusammenspiel in einer Band oder im Orchester reichen die Übertragungsthemen auf die Anforderungen und Prozesse in einem Unternehmen. Der Management-Theoretiker Peter Drucker, ein weiterer österreichischer Visionär in seiner Disziplin, hat bereits Ende der 1980er-Jahre das Orchester als Organisationsmodell der Zukunft beschrieben (Drucker 1988).
Artful Organizations nennt die dänische Innovationsforscherin Lotte Darso Unternehmen, die künstlerische Kreativität als Energie und Inspirationsquelle aufnehmen. Wo das Erleben dieser Kreativität einen Bewusstseinswandel bewirkt, der sich auf die gesamte Organisation auswirkt, auf die Art und Weise wie das Potenzial der Mitarbeiter entfaltet wird ebenso wie auf den Umgang mit Kunden und Stakeholdern (Darso 2014).
Der in der Designdisziplin entwickelte methodische Ansatz für kreative Problemlösungsprozesse, das Design Thinking – ein iterativer Prozess, der analytisches Denken mit emotionalen Erfahrungen und kollaborativen Kreativitätstechniken verbindet – findet heute weltweit Anwendung in der Wirtschaft, speziell bei Innovationsprozessen.
Artful könnte, analog zum Design Thinking, ein neuer Zugang sein, als mind set, das sich an künstlerischer Kreativität orientiert: „(…) connect the mind with the body, heart, and spirit. This is what we need in organizations.” (Darso in: Rothauer 2016, 68). Die Anwendungsbereiche, die sich daraus ergeben, reichen von creative leadership und Teamentwicklung über neue holakratische Organisationsformen bis hin zu systemverändernden Geschäftsmodellinnovationen.
Kunst hat in all ihrer Radikalität Modellcharakter, weil sie uns aufzeigt, wie weit Kreativität gehen kann – ausgehend von einem grundlegenden Vermögen jedes einzelnen Menschen. Deswegen ist es so wichtig, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, über Kunst zu lernen. Indem wir uns mit den künstlerischer Arbeit zugrunde liegenden Werten und Haltungen, Strategien und Methoden auseinandersetzen, lernen wir Denk- und Handlungsweisen kennen, die Anknüpfungspunkte zur Lösung unserer Probleme – auch in der Wirtschaft – liefern können. Die Zeit ist reif für eine Neubewertung und Verortung künstlerisch- kreativen Schaffens. Gerade Österreich hat hier ein enormes Potenzial für diese Form der arts-based innovation, wie ich es nenne: Mit seinen hidden champions in der Industrie, die in Nischenmärkten Weltmarktführer sind, mit seinen Traditionsunternehmen, die den Spagat zwischen Tradition und Innovation meistern, mit seiner neuen Generation an innovativen Jungunternehmern ebenso wie mit seiner reichen Kunst- und Kreativszene, die bekannt ist dafür, die Grenzen des Konventionellen zu sprengen.

Die Autorin
Doris Rothauer ist Kulturmanagerin, Autorin und ausgebildete systemische Beraterin. Nach langjähriger leitender Funktion im Kunstbereich gründete sie 2006 das BÜRO FÜR TRANSFER mit Fokus auf Strategieberatung und Coaching im Kunst und Kreativwirtschaftsbereich sowie auf Vermittlungs- und Kooperationsprojekten an der Schnittstelle von Kreativität, Ökonomie und Social Impact. Jüngst erschien ihr neues Buch „Kreativität. Der Schlüssel für eine neue Wirtschaft und Gesellschaft“.